Anna Stöhrs Projekt "Evolution"

DAS ABENTEUER

Vor einigen Jahren habe ich Kilian bei seinen Projekten "Hotel Supramonte" in Sardinien und "Delikatessen" in Korsika begleitet. Die Wände haben einen bleibenden Eindruck hinterlassen. Irgendwie reizt es mich herauszufinden, ob auch ich durch so eine hohe Wand klettern kann… Physisch traue ich es mir zu, aber ich hab großen Respekt vor der Höhe und der Ausgesetztheit einer großen Wand. Meine mentalen Fähigkeiten, die ich beim Wettkampf so oft ausspielen konnte, scheinen wertlos, wenn ich 100 Meter über dem Boden hänge. Ich setze mir ein Ziel: ich will mich als Kletterin verändern und vielseitiger werden. Ich will es wagen ein langes, hohes und steiles Projekt anzugehen. Die Route, die ich mir aussuche, heißt "Ali Baba" und befindet sich in den französischen Seealpen. Die Schwierigkeit liegt bei 8a+, Länge der Route 8 Seillängen (etwa 250 Meter). Mein Ziel bedeutet in jeder Hinsicht Neuland. Von kurzen, knackigen Bouldern zu einer langen, steilen Ausdauerroute. In den Osterferien steigen Kilian und ich das erste Mal ein und seilen nach 4 Längen wieder ab. Im Sommer fahren wir für 10 Tage erneut in das abgelegene und wunderschöne Dorf Aiglun, um die Route ernsthaft zu probieren. Das Wetter ist unglaublich heiß, 36 Grad steht auf dem Bordcomputer des Autos. Wir steigen drei Mal in die Tour ein. Auf der einen Seite bin ich fasziniert von den coolen Zügen, den zahlreichen Löchern und schönen Sinterfahnen, doch auf der anderen Seite fällt es mir schwer, mich in dieser Wand so richtig wohlzufühlen.

Gleich von Beginn an ist die Route extrem steil, die Stände sind wahnsinnig ausgesetzt und mir schwindelt es sogar hin und wieder. Ich weiß, dass meine Ängste irrational sind, die Tour ist gut eingebohrt, es kann nichts passieren, ich weiß was ich tue und doch kann ich mich nicht aufs Klettern konzentrieren. Dadurch fällt es mir schwer mir die Passagen einzuprägen und außerdem verändert es meinen Kletterstil. Mein dynamischer, riskanter Boulderstil verkommt zu einem nervösen und angespannten Stil bei dem ich alles zu kontrollieren versuche und in dem ich mich von einer Schlinge zur nächsten kämpfe. Dadurch sind meine Unterarme immer dick und ich kann mich nicht erholen. Es fehlt an Ausdauer, mentaler Stärke und auch an der Fähigkeit mir die einzelnen Züge, Griffe und Tritte einzuprägen. Ich weiß, dass ich die Route so nicht klettern kann: die hohen Temperaturen und der zaghafte Stil lassen nicht einmal einen Versuch zu. Deshalb schmieden Kilian und ich den Plan im Herbst wiederzukommen. Zu Hause in Innsbruck beginne ich mich auf die Tour vorzubereiten. Von kurzen Bouldern oder Sportkletterrouten zu langen Wänden: hier sind andere Fähigkeiten gefragt. Normalerweise bin ich in 10 Sekunden fertig, nun brauche ich 10 Stunden Durchhaltevermögen. Wenn ich fit genug bin, dann ist auch die Höhe nicht mehr so schlimm, so die Devise. Ich versuche also an meiner Ausdauer zu arbeiten. Klettere viele Routen im Kletterzentrum Innsbruck und versuche, so oft wie möglich am Fels lange Sportkletter Routen zu machen. Vor allem am Schleierwasserfall. Hier steht die Tour "Wassermusik" schon lange auf meiner Wunschliste: ein absoluter Klassiker.

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Außerdem ist die Tour eine ideale Vorbereitung für "Ali Baba", denn sie ist 25 Meter lang, sehr steil und schwer. Der Durchstieg gelingt mir kurz vor der erneuten Abreise nach Aiglun, was mir viel Selbstvertrauen bringt. Wenn ich 8b+ klettern kann, sollte ich auch für ein paar 8a+ Längen hintereinander bereit sein. Im September sind Kilian und ich wieder in dem wilden, verlassenen Dörfchen Aiglun und ich fühle mich besser als zuvor. Doch bereits am ersten Tag in der Route zerplatzt mein Traum vom schnellen Durchstieg. Ich fühle mich zwar fitter, doch die einzelnen Passagen fordern mich noch immer. Ich fühle mich zwar wohler, doch ganz entspannt kann ich mich noch immer nicht bewegen. Als ich mich nach langem hin und her zum Stand der 5. Seillänge kämpfe kommen Zweifel auf. Ich frage mich warum ich mir das antue und meine Motivation schwindet. Kilian versucht mir jeglichen Druck zu nehmen und meint, dass es egal ist ob ich es schaffe oder nicht. Ich könnte versuchen mich drauf einzulassen und die gemeinsamen Tage in der Wand genießen und das gemeinsame Klettern in den Vordergrund stellen. Nach 2 Rasttagen macht Kilian einen Durchstiegsversuch. Er klettert fast mühelos in seinem schnellen Stil durch die Wand. Es inspiriert mich zuzusehen und ihn zu unterstützen. Genau so will ich auch durch diese Wand klettern können, denke ich mir. Und ich fasse den Entschluss, es zu wagen und einmal Alles zu geben.

Schon hänge ich im Seil und muss mir die Passage abermals einprägen. Nach einer langen Pause schaffe ich es, die 6. Länge bis zum Stand zu klettern. Doch in der 7. Länge passiert mir der nächste Fehler. Und schon wieder hänge ich im Seil. Die Durchstiegschancen sind verschwindend klein, ich bin unsicher, ob ich noch einmal lange rasten oder lieber gleich aufgeben soll. Doch Kilian motiviert mich und stimmt mich um. Vor dem nächsten Versuch weiß ich ganz genau, dass es nur mehr diesen einen Versuch geben wird. Danach ist die Kraft zu Ende. Ich binde mir die Schuhe zu, steige ein und gebe ein letztes Mal alles. Es ist verdammt knapp, vielleicht sogar etwas Glück im Spiel. Aber ich kann die Länge frei klettern.
Beim Ausstieg kann ich es gar nicht fassen. Ich hab's geschafft!

 

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