WINTER SOLO TRAVERSE DER DREI ZINNEN
EINE EINZIGARTIGE REISE INS INNERSTE
Immer wenn sich eine Idee, ein neues Projekt in meinen Kopf gegraben haben, fühle ich diese überwältigende Begeisterung, die sich am besten als ein Mix aus Euphorie, Motivation und Berufung beschreiben lässt: Schon seit ein paar Jahren hegte ich den Plan, ein Bergmassiv, das zur Hochsaison sprichwörtlich von Touristen überflutet wird, ganz auf mich allein gestellt zu erklettern. Und immer wenn ich die Drei Zinnen sah, in irgendeiner Werbebroschüre, auf Instagram oder in einem Magazin, fiel mir mein Plan wieder ein – bis die Idee, die Traverse im Winter alleine zu bewältigen, genügend Zeit gehabt hatte, um zu reifen. Wille, Begierde und innere Standfestigkeit mussten meinen inneren Zwiespalt zwischen Anziehungskraft und Waghalsigkeit des Solo-Projekts erst auflösen – ein bedeutender persönlicher Entwicklungsprozess für mich, der viel Geduld und Beharrlichkeit erfordert hatte.
GUT DING BRAUCHT WEIL'
Nach drei Wintern waren Selbstvertrauen und Ehrgeiz soweit verschmolzen, dass ich dem Lockruf des Zinnen-Abenteuers folgen und die Solo-Erstbegehung der „Can You Hear Me“ an der Cima Scotoni in Angriff nehmen konnte. Endlich sollte es alleine an den Einstieg der steil emporragenden Scoiattoli-Kante an der westlichen Zinne gehen. Bereits einige Tage vorher hatte ich mir gemeinsam mit Florian Harasser ein Bild von den aktuell herrschenden Verhältnissen machen können. Die Bedingungen schienen beinahe optimal für den Solo-Versuch.
Genaue Kalkulation des Materials und Verpflegung gehörten ebenso zur Vorbereitung wie das Einholen einer präzisen Wettervorhersage von Lukas Rastner vom Amt für Meteorologie und Lawinenwarnung der Provinz Bozen. Das Wetter für die kommenden Tage sei stabil, aber von heftigen Windböen geprägt, bei verhältnismäßig milden Temperaturen. Das klang gut – nur der angekündigte Wind, mit Spitzen von bis zu 80 km/h, bereitete mir Kopfzerbrechen.
Am Samstag trug ich zunächst das Material zum Einstieg. Ich wollte einige Meter der Scoiattoli-Führe klettern und darauf achten, wie sehr mich der starke Nordwestwind bremsen würde. Bereits vom Einstieg weg machte sich ein auffallend gutes Gefühl breit: Das Klettern fiel mir ziemlich leicht und mein Bauchgefühl sendete mir erstaunlich positives Feedback.
DIE WESTLICHE ZINNE
Am Sonntag nahm ich die Zinnen-Traverse in Angriff, voller Elan und Begeisterung. Von Seillänge zu Seillänge kamen Finger, Sehnen und Muskeln auf Betriebstemperatur und ich merkte nun den entscheidenden Vorteil, den das Solo-Klettern bietet: Man ist ständig in Bewegung, es gibt kein Warten oder Stehen an den Standplätzen, wo der Körper normalerweise beim Winterbergsteigen ziemlich rasch auszukühlen droht. Ganz allein an der eindrucksvollen Kante, genoss ich insgeheim die Einsamkeit und den rhythmischen Kletterfluss, der sich scheinbar automatisiert hatte. Fehler beim Nachziehen des Materials oder bei den zwingenden Seilmanövern durfte ich freilich keine machen, trotz des zügigen Tempos – das Verknoten der Seile oder das Hängenbleiben der Seilenden in einer Felsspalte waren absolute Tabus. Der Rucksack, den ich nachzog, fungierte wie eine Kompassnadel in dieser steilen Welt: Bei jedem Einziehen pendelte er so weit draußen in der Luft, dass er mir stets vor Augen führte, wie steil die Route in Wirklichkeit ist.
Beim Übergang vom überhängenden Wandteil in die gemäßigteren Seillängen hatte ich mir ein wenig Erleichterung erhofft, doch bis zum Gipfel wartete noch einiges an delikater, gemischter Kletterei auf mich – der Berg führte mir unmissverständlich vor Augen, dass die Route erst am Paternsattel auch wirklich geschafft ist. Am Gipfel der Westlichen Zinne angekommen, knipste ich rasch ein paar Fotos und stieg dann entlang des Normalweges zum Scheitelpunkt zwischen Großer und Westlicher Zinne, wo ich die Biwakutensilien deponiert hatte. Ich nutzte die überschüssige Zeit und stieg die ersten 100 Meter der Dülferverschneidung hoch, bevor ich mich am Biwakplatz für die Nacht vorbereitete. Ich wollte das Projekt am nächsten Tag schaffen, ohne ein zusätzliches Biwak einzuschieben – dieser Vorsatz schaukelte meine Gedanken und Gefühle in einen angenehmen Standby-Modus, trotz der heftigen nächtlichen Windstöße.
DIE GROSSE ZINNE
Noch im Dunkeln packte ich eine leichte Daunenjacke und ein paar Riegel für ein Notbiwak in den Rucksack. Das Hochjümaren über das schlanke Seil, das ich am Vortag angebracht hatte, gestaltete sich sehr heikel: Bei jedem Hinausschwingen wurde das Seil scheinbar fragiler, es scheuerte an mehreren Kanten und drohte bei zu heftigem Schwingen sogar zu reißen. Beim ersten Felskontakt im geneigten, grauen Wandteil musste ich tief Luft holen: Heilfroh, die verwegene Aktion überstanden zu haben, sprach ich mir selbst Mut zu. Die Dülferführe – von einer dünnen, seifig-rutschigen Glasur bedeckt – führte mich Richtung Gipfel der Großen Zinne, an deren Ringband ich die ersten Sonnenstrahlen erhaschte. Um 9.20 Uhr war der Gipfel erklommen, und der anschließende Abstieg über den Normalsteig glich einem rasanten Downhill.
DIE KLEINE ZINNE
Nachdem ich die Schlucht zwischen Großer und Kleiner Zinne überwunden und die ersten Meter bergwärts geschafft hatte, überkam mich eine körperliche und mentale Krise. Ich musste eine Pause einlegen. Ich kauerte mich in eine Nische und wiederholte mein Mantra: „Simon, bleib ruhig, konzentriert und finde wieder einen kontrollierten Rhythmus. Vermeide Stress, Druck und werde nicht hastig!“. Wenig später konnte ich mit der notwendigen Vorsicht und ohne Hektik weiterklettern. Am Gipfel der Kleinen Zinne angekommen, wollte ich keine Zeit verlieren und machte mich sofort für das Abseil-Manöver entlang der Innerkofler Route bereit, mit dem ich um exakt 11.44 Uhr begann.
DIE PUNTA FRIEDA UND DER PREUSS-TURM – DER EMOTIONALE HÖHEPUNKT
Ich kletterte über den scharfen Grat zur Punta Frieda. Eisige Abschnitte wechselten sich mit morschen und brüchigen Felspassagen ab. Den Gipfel der Punta Frieda habe ich kaum wahrgenommen. Wie im Rausch stieg ich rasant die Nervenschlucht ab. Wenige Abseilstellen vom Einstieg zum Preuss-Turm entfernt, mobilisierte ich mit einem allerletzten, klebrigen Powergel meine letzten Kraftreserven. Ich kletterte wie in Trance und eilte, total überwältigt von Konzentration und Kletterfluss, dem letzten Berg entgegen, dem emotionalen Höhepunkt meiner Zinnen-Traverse.
Am Preussturm fand ich endlich wieder Zeit zum Atmen – und sofort durchströmte mich ein wohliges Gefühl. Ich nahm mein Umfeld wieder wahr, blickte in die Ferne und genoss den Weitblick. Ein paar Tränen der Freude glitten über meine frostigen Backen. Dieser Moment und dieses Gefühl waren dermaßen eindrucksvoll, dass ich sie tief in mich aufsaugen wollte. Ich war aufgelöst, wie losgelöst und rundum zufrieden – und meine übermütige Freude brach mit einem lauten Jubelschrei aus mir heraus.
Die Entscheidung, die Zinnen-Traverse solo zu probieren, war der Auftakt für eine intensive Erfahrung – eine einzigartige Reise in mein Innerstes, die mich auch an die Grenzen meiner Gefühlswelt brachte.